
Im wilden Heim der Riesen – Wandern in Norwegen
05/07/2018Gewaltige Gletscher, türkisfarbene Seen und staubende Wasserfälle haben vergangene Eiszeiten Norwegen als Erbe hinterlassen und prägen heute die Landschaften im Jotunheimen-Gebirge und in der Hardangervidda. Von Juni bis August haben Kälte und Schneestürme Pause und geben die Natur frei für einen Sommer, der die Wiesen auf einen Schlag grün färbt. Im Süden Norwegens wandert man nicht einfach, sondern kann entlang von Steintrollen den höchsten Berg Nordeuropas erklimmen, auf den Spuren des Lügenbarons Peer Gynt aus der norwegischen Nationalsaga über Grate klettern oder auf einer Trollzunge in luftiger Höhe stehen. Alles was man dafür benötigt sind Schlafsack, Zelt und eine Wanderausrüstung. Eine Entdeckungsreise durch ein Land, das von ganz besonderen Geschichten beseelt ist.

Ein lohnender Wanderklassiker: der Besseggen-Grat zwischen den Seen Gjende und Bessvatnet
Die Seele Norwegens erwandern
Wandern in Norwegen ist alles andere als gewöhnlich. Die Saison ist kurz, dafür umso beeindruckender und hinter vielen Touren und Landschaften steckt eine besondere Geschichte, die es zu entdecken gilt. Es empfiehlt sich, Augen und Ohren offen zu halten, um die Seele Norwegens wirklich kennen zu lernen, denn ein Wandertrip nach Norwegen ist immer auch ein Streifzug durch die Mythologie und Sagenwelt des Landes.

Ein “Steintroll” auf dem Weg zum Galdhøpiggen, mit 2452 Meter der höchste Berg Norwegens
Von Steintrollen und Berggeistern
Die Entdeckungsreise beginnt schon bei den allgegenwärtigen Steinmännern, die Wanderwege und schmale Pfade im Gebirge säumen. Die aufgeschichteten Steinhaufen, stehen wie kleine Türmchen am Wegesrand und sind nicht einfach nur Wegweiser, wie man sie aus den Alpen kennt. Oda aus Oslo, die ihre Sommerferien gerne in den Bergen wie dem höchsten des Landes – dem Galdhøpiggen – verbringt, erklärt, worum es sich bei den Steinmännern wirklich handelt: „Einer norwegischen Überlieferung zufolge soll der Wanderer auf jeden der Haufen einen Stein legen, um unbehelligt von Trollen zu bleiben. Denn die Steinmänner sind symbolische Häuser für die Trolle, so dass diese oben in den Bergen bleiben und sich nicht hinunter in die Siedlungen der Menschen schleichen, um dort Unfug zu treiben“, erzählt sie schmunzelnd.
Viele Wanderer scheinen von der Erzählung zu wissen, und so beobachtet man auf Tour, wie nicht nur Kinder, sondern auch viele Erwachsene beim Vorbeigehen die Steintrolle – denn so werden Steinmänner in Norwegen auch genannt – durch Hinzufügen eines Steins vergrößern. Man will die Trolle schließlich nicht verärgern. Denn obwohl auf Norwegisch der Ausdruck „trolsk“ für zauberhaft steht, gelten die Berggeister doch als Wesen, mit denen man sich gut stellen sollte. Schritt für Schritt zieht man an den Steintrollen vorbei und den Gipfel vor Augen stellt man sich vor, wie die kleinen Trolle hinter ihren Steinhäuschen hervor lugen und die Wanderer beobachten, wie diese auf den gerölligen Wegen die Spitze des Berges erklimmen.

Traumblick über das Jotunheimen-Gebirge vom Gipfel des Galdhøpiggen
Galdhøpiggen – Norwegens Höchster
Steht man auf dem Gipfel des 2469 Meter hohen Galdhøpiggen und hat das Glück, dass die Wolken aufziehen, eröffnet sich ein großartiger Blick über das gesamte Jotunheimen-Gebirge, das Dach Norwegens. Schroffe, zackige Felswände ragen aus dicken, weißen Gletschern hervor, die von innen heraus bläulich schimmern und wilde Spalten tun sich auf. Man fühlt sich ganz klein bei diesem Anblick und da passt es genau, als Marc, ein Bergsteiger aus Stuttgart, den wir am Gipfel kennenlernen, erzählt: „Wusstet ihr, dass Jotunheimen auf Norwegisch ´Heim der Riesen´ bedeutet?“ Wie passend, steht man doch auf dem Gipfel wie ein Besucher inmitten des Reichs von Steinriesen, die einem ausnahmsweise gestatten, einen Blick in ihre Welt zu werfen. Angeregt von dieser Vorstellung, steigen wir ab, die versteinerten Riesen über uns schauen auf uns herunter und flinke Trolle hüpfen kaum wahrnehmbar hinten den Steinen hervor und kichern. (Gletschererfahrung ist für diese Tour zu empfehlen, weitere Infos sind hier zu finden.)
Und wahrscheinlich ist es genau das, was Norwegen ausmacht. Dieses Land ist einfach „trolsk“, zauberhaft, und die Geschichten über Trolle und Steinriesen ein Stückchen Kultur, das aus Norwegen nicht wegzudenken ist.

Der Besseggen-Grat
Ein wilder Ritt auf dem Besseggen-Grat
Dass für die Norweger die Sagen und Mythen ihres Landes immer noch sehr lebendig sind, wird auch an der Parade-Bergtour der Norweger deutlich, die bei den Einheimischen eine der beliebtesten überhaupt ist. Nicht umsonst machen sich pro Jahr bis zu 30.000 Menschen auf, den „Besseggen-Grat“, der sich hoch über dem 18 Kilometer langen Gjendesee entlang zieht, zu begehen. Und das liegt nicht nur an der spektakulären Landschaft und dem einzigartigen Ausblick über den Gjende, der mit seiner länglichen Form und den an den Seiten steil aufragenden Felsen wie ein Fjord wirkt, und dessen eiskaltes Wasser von mehreren, von Sedimenten ganz grau gefärbten, Gletscherflüssen gespeist wird.

Sommerliche Temperaturen während der Wanderung über den Besseggen-Grat.
Von der Geschichte, die hinter dem Besseggen-Grat steckt, erfahren wir von Kalle, der die Tour in den Sommerferien mit Freunden unternimmt: „Das Foto, dass man am höchsten Punkt des Besseggen-Grats machen kann, ist ein Must-Have, ein Klassiker. In der Mitte der schmale Grat, der im Peer Gynt von Ibsen vorkommt, rechts und links davon die Seen Gjende und Bessvatnet“, erzählt er. „Sensengrat“ heißt Besseggen übersetzt und auch wenn die Schilderung von Henrik Ibsens Lügenbaron Peer Gynt etwas übertreiben ist, ein Foto auf dem Besseggen-Grat sollte jeder Norweger von sich haben: „Hast du den Gendingrat einmal gesehen?“, fragt Peer Gynt seine Mutter in der gleichnamige Saga und schwärmt weiter: „Wohl ne Meile läuft er hin, in Sensenrückenbreite. Unter Firneis, Schuttmoränen, Schnee, Geröll, Sand, kunterbunter, sieht dein Aug auf jeder Seite stumme, schwarze Wasser gähnen“. Peer Gynt schaffte es angeblich, über den schmalen Grat auf einem Bock zu reiten, auf dem die Wanderer zwar nicht wirklich klettern, jedoch stellenweise ihre Hände benützen müssen, um hinauf zu kommen. Dies nehmen sie gerne auf sich, zum einen natürlich für das obligatorische Foto, aber auch, um sich davon zu überzeugen, dass Peer Gynt zurecht als Lügenprinz bezeichnet wird, denn über den Grat zu reiten, das würde nicht mal er schaffen. (Die Tour über den Besseggen-Grat dauert 2 Tage, geschlafen haben wir im leichten 2-Personen-Zelt).

Ein langer Hatscher, der sich lohnt: Tour zur Trolltunga
Vettisfossen: Foto-Spot deluxe
Noch spektakulärer als der Ausblick vom Besseggen-Grat aber ist eine andere Tour, die uns wieder zurück in die Welt der Trolle führt. Es handelt sich um die Wanderung zu legendären Trollzunge bei Odda, einem Felsen, der in schwindelerregender Höhe 700 Meter hoch über dem Stausee Ringedalsvatnet ins Nichts ragt. Wanderer, die den Nervenkitzel suchen, sollten sich dieses Ziel nicht entgehen lassen, aber auch keinen falschen Schritt machen, wenn sie nach 5 Stunden an der Trollzunge stehen und sich für ein Bild, das man nicht alle Tage bekommt, bis vor an den Rand des Felsens wagen. Dort steht man nun, auf der versteinerten Zunge eines riesigen Trolls, blickt in die Tiefe in das klarste Blau, das man sich nur vorstellen kann und spürt sie ganz deutlich, die einzigartige Seele Norwegens.

Der Wasserfall Vettisfossen mit 275 Metern freier Fallhöhe ist auf einem schönen Wanderweg in ca. 2 Stunden zu erreichen.